Der Klimawandel und der in vielen Städten ausgerufene Klimanotstand sind ein deutliches Signal, unser Handeln zu verändern. Parallel dazu zieht eine neue Denkweise in Stadtplanung und Architektur ein: die Resilienz. Im Rahmen des Kongresses Quo Vadis 2020 in Berlin, einem wichtigen Forum für Debatten und Weiterentwicklung unserer Denkansätze, luden der Veranstalter Heuer Dialog und Jürgen Engel zur Paneldiskussion mit dem Thema „High- oder Low-Tech: Strategien für die resiliente Stadt“ ein. Ihre Gäste waren Staatssekretärin Anne Katrin Bohle, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat; Prof. Jochen Rabe, Professor für Urbane Resilienz und Digitalisierung am Einstein Center Digital Future (ECDF) der TU Berlin sowie Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Wasser Berlin (KWB); und der Immobilienentwickler Coert Zachariasse (Delta Development). Gemeinsam stellten sie sich die Frage: Welchen Mehrwert hat der ganzheitliche Anspruch der Resilienz für die Entwicklung einer Stadt und ihrer Architektur? Denn eins ist gewiss: Wir brauchen neue Strategien, um den Krisen der Zukunft besser begegnen zu können. Eine zentrale Frage ist, wie uns die Digitalisierung dabei helfen kann.

„Wie gehen wir klug mit Bestand um und wo können wir uns den Luxus von Neubau leisten?“

Jürgen Engel:

Frau Bohle, das Stichwort Resilienz fiel in diesem Zusammenhang zuletzt bei der Stadtentwicklungskonferenz 2019, die den Titel trug: „smart, solidarisch, resilient“. Welche Absicht steht hinter Ihrer Verwendung dieses Begriffs?

Anne Katrin Bohle:

Dahinter steht ein komplexes Thema mit eigentlich pragmatischer Botschaft: Wie werden unsere Städte widerstandsfähiger in Zeiten sehr schneller Veränderung innerhalb sehr kurzer Intervalle? Wie werden sie zukunftsfähiger? Mit Blick auf konkrete Bauaufgaben: Wie gehen wir klug mit Bestand um und wo können wir uns den Luxus von Neubau leisten?

Jürgen Engel:

Herr Zachariasse, bei besagten Innovationen für die smarte Stadt von morgen sind Sie der richtige Ansprechpartner. Wie nutzen Sie als Entwickler den Ansatz „Cradle to Cradle“ und wie hilft er Ihnen bei der Realisierung Ihrer Gebäude?

Coert Zachariasse:

Entwickler sind in erster Linie Unternehmer und nutzen als solche seit Langem das Prinzip „Cradle to Cradle“, da wir uns die Frage stellen: Wie machen wir unsere Produkte für die Nutzer noch besser? Wie erhalten sie einen Mehrwert? Gleichzeitig fragen wir uns aus wirtschaftlicher Sicht, wie wir zukünftig besser investieren. Für mich ist der „Cradle to Cradle“-Ansatz sehr sinnvoll, da er von der Planung bis hin zur Nutzung alle Aspekte miteinbezieht und dabei Vorteile für alle schaffen kann.

Staatssekretärin Anne Katrin Bohle ist seit März 2019 in ihrem Amt im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. Zuvor war sie lange Zeit Vorsitzende des Ausschusses für Bauen, Stadtentwicklung und Wohnen der Bauministerkonferenz. Zudem hat sie den Vorsitz des Stiftungsrats der Bundesstiftung Baukultur. Die Überarbeitung der Leipzig-Charta von 2007 stellte zuletzt einen der Schwerpunkte ihrer Arbeit dar. Die Neue Leipzig-Charta wurde schließlich unter der deutschen Ratspräsidentschaft Anfang 2021 verabschiedet. Sie adressiert auch den Umgang mit dem Bestand und Flächenreserven sowie die Digitalisierung der Städte.

„Anders, als es uns manche wissenschaftliche Beiträge glauben machen wollen, ist ‚resilient‘ nicht das neue ‚nachhaltig‘.“

Der kluge Umgang mit Bestand ist von zentraler Bedeutung, wie im Projekt “An der Alster 48” in Hamburg.
Coert Zachariasse ist Gründer des Unternehmens Delta Development. Er hat die Digitalisierung als Chance begriffen und mit der „Cradle to Cradle“-Philosophie ein innovatives Geschäftsmodell entwickelt, das anpassbare Gebäudestrukturen ermöglicht. Sein Ansatz steht exemplarisch für eine digitale Projektentwicklung, die sowohl den Planungsprozess als auch die Nutzung eines Gebäudes vollkommen neu definiert.

Jürgen Engel:

Und welchen Beitrag leisten Ihre Gebäude und Quartiere damit zur urbanen Resilienz?

Coert Zachariasse:

Wir können zum Beispiel durch eine simple Reduzierung von aufwendigen Komponenten oder Materialien Kosten senken, was allen Beteiligten zugutekommt. Wenn die Bauten flexibler werden und Veränderungen zukünftig besser ermöglichen, werden sie belastbarer und widerstandsfähiger. Auch Grundrisse könnten wir besser überdenken und auf ihre tatsächliche Nutzung untersuchen. Bei diesen Ansätzen helfen uns digitale Prozesse, die idealerweise kombiniert werden: Wir sammeln bei der Planung und dem Bau viele Informationen über ein Gebäude, z. B. die Daten aus BIM-Modellen. Wenn Sie diese Quellen bündeln und auswerten, können Sie die Daten auch langfristig für eine intelligente Stadtplanung nutzen.

Jürgen Engel:

Herr Rabe, weshalb haben Sie das Thema „Resilienz“ zum Teil Ihrer Professur gemacht? Provokant gefragt: Braucht man diese Vertiefung denn, wenn man sich bereits mit Nachhaltigkeit beschäftigt?

Jochen Rabe:

Da greifen Sie eine wichtige Grundsatzfrage auf: Anders, als es uns manche wissenschaftliche Beiträge glauben machen wollen, ist „resilient“ nicht das neue „nachhaltig“. Resilienz kann Nachhaltigkeit um weitere Faktoren ergänzen – an unseren Nachhaltigkeitszielen wird also nicht gerüttelt. Resilienz ist deshalb in meiner Forschung so wichtig, da sie Verständnis und Umsetzung miteinander verbindet. Da wir in einer Zeit leben, in der sich Städte so schnell verändern, dass die bisherigen Systeme überfordert sind. Es geht also um neue Strategien, die nicht immer mit Nachhaltigkeit gleichbedeutend sind.

„Entwicklung und Umsetzung vereint – da steige ich als Architekt gerne mit ein, denn wir fordern selbst mehr Experimente in der Stadtplanung.“

Jürgen Engel:

Entwicklung und Umsetzung wieder vereint – da steige ich als Architekt gerne mit ein, denn wir fordern selbst mehr Experimente in der Stadtplanung. Sie forschen auch an den angesprochenen Digitalisierungsprozessen. Welche neuen Nutzungserwartungen gibt es durch die Digitalisierung an ein Gebäude?

Jochen Rabe:

Eine solche Digitalisierung muss immer in einem städtischen Maßstab gedacht werden. Dazu müssen auch kluge, nachhaltige Strategien für den Bestand her. Wenn wir von CO2-Reduktion sprechen, können und dürfen wir uns nicht immer nur auf Neubauten fokussieren. Digitalisierung kann helfen, entscheidende Daten aus einem Gebäudebestand auszulesen. Um unseren Bestand wandlungsfähiger zu machen, müssen wir dessen Nutzung auf unseren Bedarf abstimmen und vor allem flexibler ändern können.

Jürgen Engel:

Keine leichte Aufgabe …

Jochen Rabe:

Das stimmt. Aber im urbanen Maßstab lasten wir unsere Kapazitäten mehr und mehr aus. Gebäudenutzungen müssen daher schneller auf Veränderungen reagieren können. Wenigstens die Erdgeschosszonen sollten bereits auf den gesellschaftlichen Wandel angepasst werden.

Jürgen Engel:

Und welche konkreten Methoden empfehlen Sie?

Jochen Rabe:

Durch das Erforschen des Nutzerverhaltens kann man viel über eine Stadt lernen. Es muss uns in Zukunft gelingen, mögliche Nutzungsänderungen zu bestimmen und so eine Transformation eines Gebäudes vorauszuplanen.

Prof. Jochen Rabe hält derzeit die Professur für Urbane Resilienz und Digitalisierung am Einstein Center Digital Future (ECDF) an der TU Berlin und ist Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Wasser Berlin (KWB). Er kommt aus der Praxis und verfügt über 20 Jahre Berufserfahrung unter anderem als Stadtentwickler im In- und Ausland. Derzeit forscht er an der rapiden Digitalisierung unserer Städte. Jochen Rabe untersucht, inwieweit Digitalisierungsprozesse die Erneuerungskräfte unsere Städte stärken können bzw. Risiken darstellen. Ein wichtiger Aspekt sind dabei neue Formen der Partizipation, die schnell konkrete Ergebnisse liefern können.

Coert Zachariasse:

Aus solchen Datenanalysen lässt sich sehr viel gewinnen. Denn wir wissen nicht, was morgen kommt – wir können nur versuchen, unsere Gebäude anpassungsfähiger zu machen. Als reiner Entwickler können Sie kaum langfristige Werte für die Stadt schaffen. Auch da ist es hilfreich, den Entwurf für den Endnutzer und darüber hinaus zu denken. Einer ungewissen Zukunft kann man mit mehr Flexibilität besser entgegentreten und nachhaltigere Gebäude schaffen.

Jürgen Engel:

Greifen Sie hier auf eigene Erfahrungen zurück?

Coert Zachariasse:

Ja, ich beobachte im Moment die Tendenz, alles in Euro umzurechnen. Wenn wir alles monetarisieren, verpassen wir die Chance, wirkliche Werte zu erkennen. Wie viel ist uns Ästhetik wert, wie hoch ist der Wert für saubere Luft? Was für eine Inspiration liegt einem Bau zugrunde? Das sind nicht zu unterschätzende Aspekte, die für uns schwer in einem Geldwert zu messen, aber ideell sehr kostbar sind. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz.

Jürgen Engel:

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Coert Zachariasse:

Nehmen Sie die Innenstadt von Amsterdam: Sie wurde vor über 500 Jahren gebaut und verkörpert eine eigene Ästhetik, die wir heute nicht mehr bauen, aber immer noch als hochwertig wahrnehmen. Da stelle ich mir die Frage, ob wir manche Dinge verlernen, die uns frühere Generationen voraushatten. Beim Abriss und Wiederaufbau verbrauchen wir zum Beispiel so viel CO2, dass es oft mehrere Jahrzehnte dauert, bis dieser Ausstoß durch ein kluges Energiekonzept wieder ausgeglichen würde.

„Die europäische Stadt hat sich mit ihrem Verhältnis zwischen Dichte und Zentralität bisher als sehr anpassungsfähig erwiesen.“

Jürgen Engel:

Frau Bohle, was unternimmt unsere Politik, um langfristig angelegte Geschäftsmodelle im Sinne der Resilienz zu fördern? Wie können die Gesetze und die Gesetzgebungsprozesse günstigere Voraussetzungen schaffen?

Anne Katrin Bohle:

Ich sehe die bisherigen gesetzten rechtlichen Rahmenbedingen nicht grundsätzlich als Hinderungsgegenstände. Es wäre einfach zu bauen, ohne beispielsweise Flora und Fauna zu bedenken und damit eine Umweltprüfung zu vernachlässigen. Der Preis für ein solches Handeln wäre hoch. Wir brauchen eine kompetente öffentliche Verwaltung: Wenn unsere Bau- und Planungsämter zum Beispiel mit der freien Wirtschaft vernetzt wären, ginge es auch schneller, aber bei Recht und Gesetz kommen wir nicht ohne die öffentliche Hand aus. Besonders auf kommunaler Ebene, wo ich nicht nur die Planungshoheit, sondern auch die entsprechende Ortskenntnis habe. Die Umsetzung braucht gebündeltes Wissen und Ressourcen aus Finanzkraft, Manpower und Intelligenz.

Jürgen Engel:

Die europäische Stadt hat sich mit ihrem Verhältnis zwischen Dichte und Zentralität bisher als sehr anpassungsfähig erwiesen. Aber auf welche Reserven können wir in dieser angesprochenen Wachstums- und Veränderungsphase überhaupt zurückgreifen?

Anne Katrin Bohle:

Eins ist klar: Unser Raum und unser Boden sind endlich. Versiegelung kann und soll also nicht die Antwort sein. Wir können andere Dichten herstellen, jedoch haben unsere Städte unterschiedliche Voraussetzungen: So ist die Dichte in München kaum noch zu steigern. In Hamburg ist das anders: Hier haben wir innerstädtisch noch deutliches Potenzial zur Nachverdichtung. Wir brauchen überall eine bestimmte Bereitschaft, mit diesem Potenzial umzugehen und mit dem Einsatz von Wissen vor allem in klimatischer Hinsicht voranzukommen.

Besonders die Innenstädte, wie die Eichhornstraße am Oberen Markt in Würzburg, befinden sich im Wandel.

„Eins ist klar: Unser Raum und unser Boden sind endlich. Versiegelung kann und soll also nicht die Antwort sein. Wir können andere Dichten herstellen, jedoch haben unsere Städte unterschiedliche Voraussetzungen.“

Jochen Rabe:

Auch hier hilft uns die Digitalisierung, Probleme besser darzustellen. Wenn wir ein Ziel der hohen Dichte verfolgen, verfügen wir irgendwann über weniger Redundanzen. Das heißt, in Momenten des Wandels – die immer häufiger werden und in immer größeren Maßstäben auftreten – reagieren unsere Städte immer langsamer. Digitalisierung bietet die Chance, Kapazitäten besser sichtbar und dadurch verfügbar zu machen.

Jürgen Engel:

Existieren denn bereits positive Beispiele aus der Vergangenheit, z. B. Städte, die früh auf zukünftige Entwicklungen reagiert haben?

Anne Katrin Bohle:

Stuttgart kann hier als Referenz dienen, denn hier hat man die Überhitzung der Stadt bereits vor 20 Jahren erkannt und mit Grüngürteln und Schneisen in dicht bebauten Stadtrandgebieten darauf reagiert, um die Stadt widerstandsfähiger zu machen.

Jürgen Engel:

Und wie schaffen das andere Städte?

Anne Katrin Bohle:

Innerhalb der ohnehin vorhandenen gesetzgeberischen Möglichkeiten und mit dem Einsatz kommunaler Intelligenz und partizipativer Prozesse. Es gibt eine Menge an Spielarten, um zwar die Zukunft nicht sehen, aber wenigstens anpassungsfähig gestalten zu können. Ich bin davon überzeugt, dass das Bild der europäischen Stadt – nicht unbedingt in der Charta von Athen, wohl aber in der Charta von Leipzig und ihren Nachfolgern – resilient und nachhaltig sein wird.

Jürgen Engel:

Sie sprechen von der europäischen Stadt, aber sind wir hier in Deutschland nicht manchmal zu restriktiv? Die Rockefeller Foundation hat das Netzwerk „100 Resilient Cities“ etabliert. Weltweit wurde dazu in Städten eine Stabstelle in der Stadtverwaltung installiert, mit dem Ziel, die Resilienzfähigkeit zu erhöhen. Wie kommt es also, dass unter den 100 keine einzige deutsche Stadt zu finden ist?

Anne Katrin Bohle:

Das stimmt, das kann ein Defizit sein. Ich sehe hierzulande aber gleichzeitig viele eigenständige Städte und Gemeinden, die sehr initiativ sind und tatsächlich etwas ausprobieren. Bottrop und die Innovation City, die den Mailändern auch ein Beispiel war, und wo es gelungen ist, ein ganzes Viertel zu einer Innovations- oder auch Sanierungsquote zu bringen, die den Bundesdurchschnitt um das Dreifache übersteigt. Ob wir ihn den deutschen Weg oder anders nennen – hier gibt es kein Label.

„In schnelllebigen Zeiten finde ich es viel beängstigender, sich nicht zu verändern, als umgekehrt.“

Jürgen Engel:

Herr Zachariasse, wie bringen Sie sich als Unternehmer und Entwickler hier ins Spiel, um die Zukunft der Städte aktiv mitzugestalten? Wie können Sie dahingehend unsere Politik unterstützen?

Coert Zachariasse:

Das ist eine der wichtigsten Aufgaben politischer Führung. In schnelllebigen Zeiten finde ich es viel beängstigender, sich nicht zu verändern, als umgekehrt. Ich erlebe es immer wieder, dass wir alle möglichen Schwierigkeiten mit den Bauvorschriften und lokalen Behörden haben. Aber wir sprechen mit ihnen und erklären unsere Schritte und Möglichkeiten. Es geht uns um einen Austausch: Welchen Zweck verfolgen bestimmte Gesetze und welche anderen Möglichkeiten gibt es, um Fortschritte zu machen? Wir müssen Unternehmen und Politik zusammenbringen und ganzheitlich denken: Was wollen wir tun und wie erreichen wir diese Ziele? Und welche neuen Wege können wir beschreiten, welche alten Prinzipien sollten wir überdenken? Wenn wir uns diese Fragen stellen und uns miteinander austauschen, werden wir ans Ziel kommen.

Jürgen Engel:

Ich danke ganz herzlich für das Gespräch.

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Jürgen Engel
Geschäftsführender Gesellschafter

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